Man ist ja öfter einmal überrascht von etwas: Dass das Geld alle ist, zum Beispiel. Oder dass man schon wieder sein Datenvolumen aufgebraucht hat. Oder es taucht ganz plötzlich und unerwartet ein Fest wie Weihnachten auf. Aber das ist überhaupt kein Vergleich dazu, wie oft die an der Entwicklung und Förderung der Elektromobilität Beteiligten von einem unerwartet hohen Interesse glatt überrumpelt werden.
Da geben Autohersteller bekannt, nun Bestellungen für ihr neues Elektroauto entgegen zu nehmen – und sind völlig von der Rolle, wenn Kunden kommen und die Autos auch kaufen wollen. Wer konnte denn mit so etwas rechnen?
Beinahe unverzüglich nach jedem Verkaufssstart kann man derartige Presesmitteilungen erwarten:
„Wir haben völlig unterschätzt, wie groß die Nachfrage ist und bitten um Verständnis für die daraus folgenden langen Wartezeiten.“
oder
„Es war für uns nicht vorherzusehen, welches Interesse unser Angebot haben wird. Daher ist unsere Produktion für dieses Jahr bereits ausverkauft.“
Um Himmels Willen! Wer berät denn diese Unternehmen? Da wagen die eine milliardenschwere Investition für ein neues Automodell – und wissen nicht, wie der Markt für dieses Fahrzeug ist? Das ist ja wohl ein Scherz! Kein Vorstand oder Aufsichtsrat gibt Gelder frei, wenn nicht vorher eine sogfältige Marktanalyse durchgeführt wurde.
Dieses Phänomen zieht sich jedoch durch alle mit der Elektromobilität verbundenen Bereiche. Auf der einen Seite lässt die Kritik an der geringen Reichweite der Autos, den mäßigen Lademöglichkeiten, zu teuren oder zu komplizierten Bezahlverfahren den Eindruck entstehen, es sei einfach noch nicht so weit mit der Elekromobilität. Insgesamt liegt die Zahl der Neuzulassungen in Deutschland bei etwas über einem Prozent. Von den Fördergeldern für die Autos ist nur ein Bruchteil beansprucht worden.
Auf der anderen Seite jedoch müssen Kunden auf aktuelle Modelle mitunter über ein Jahr warten. Besonders, wenn für einen oder mehrere der Kritikpunkte eine Lösung geboten wird. Wieso sollte man vom Erfolg eines solchen Produktes überrascht sein? Doch nur, wenn man der festen Überzeugung ist, dass der Kunde den Wechsel eigentlich nicht wünscht.
Da beklagt zum Beispiel der ADAC wie so viele anderen Institutionen, Foren und Fahrer, dass es keine einheitlichen, verständlichen und preiswerten Bezahlverfahren für das Laden von Elektroautos gibt, und organisiert für seine Mitglieder einen schönen Tarif in Kooperation mit EnBW. Und dann ist man von Resonanz überrascht. „Mit einer so hohen Nachfrage vom Start weg haben wir nicht gerechnet Dass es nun zu Verzögerungen im Kartenversand kommt, bedauern wir.“
Ein Problem wird erkannt, eine brauchbare Lösung geschaffen – und dann rechnet man nicht mit dem Erfolg seiner Bemühungen?
Es ist schon wirklich auffällig, wie sehr sich gerade beim Thema Elektromobilität immer wieder Vermutung und Realität unterscheiden. Zu pessimistisch sind die Annahmen, etwas mehr Optimismus bei der Einschäzung wäre da wohl angebracht. Vielleicht sollte man ja generell mal langsam von Folgendem ausgehen:
Elektromobilität funktioniert. Und wenn die angebotenen Produkte zum Alltag passen, dann werden sie auch angenommen. Die Nachfrage in der jeweiligen Zielgruppe ist groß. Offensichtlich sind die Menschen weitgehend von der Nützlichkeit des Konzeptes überzeugt und warten nur auf Autos, die sie kaufen können.
Autoindustrie und Politik – böse Zungen behaupten, das seien zwei Begriffe für dieselbe Sache – sollten ihre Aufgabe akzeptieren und zügig die notwendigen Entscheidungen treffen. Ganz offensichtlich ist ja die These, Elektromobilität interessiere nur ein paar Freaks, komplett falsch. Man muss daher auch überhaupt nicht überrascht sein, wenn diese Idee sich durchsetzt. An der gegenteiligen Vermutung festzuhalten, kann sich jedoch als schwerer Fehler herausstellen.
Derzeit sehe ich persönlich in Deutschland nur den VW-Konzern, der das so einschätzt und von einem Erfolg seiner E-Mobilitäts-Strategie ausgeht. Alle anderen könnten eine böse Überraschung erleben.
Update Mitte April 2019: Volkswagen zählt nun die Tage bis zur Eröffnung der Bestellliste für den ID. Bin gespannt, ob danach einer der oben zitierten Textbausteine zum Einsatz kommt oder nicht.
Update Anfang Mai 2019: Diesmal sind vor allem viele Interessenten überrascht, als nach dem Start der Reservierungsmöglichkeit für VWs nächstes E-Auto ID.3 der Server überlastet abstürzt. Über 10.000 potentielle Käufer haben sich in den ersten 24 Stunden einen frühen Produktionstermin für ihren ID.3 „1st Edition“ gesichert, den sie dann ab Frühjahr nächsten Jahres zur Lieferung im Sommer 2020 konfigurieren können.
Bis dahin kann ja VW die damit schon mal schnell eingenommenen 10 Millionen Euro an Reservierungsgebühr vielleicht für den Ausbau seiner IT verwenden…